Wifi-Hotspots in Havanna
Kuba ist zurzeit in aller Munde. Überall wird über die Zukunft der Insel spekuliert. Doch neben den politischen Entwicklungen tut sich noch etwas anderes: Das Internet wird für die kubanische Bevölkerung allmählich zugänglich. Für ihre Bachelorarbeit reiste die Ethnologie-Studentin Tanja Luchsinger nach Havanna.

 

Einen Monat verbrachte sie in den Strassen und Parks im Gespräch mit kubanischen Internetnutzern und Geschäftemachern.

«Lass mich hier aussteigen, bitte», rufe ich, die wummernde Reggaeton-Musik übertönend, dem Fahrer des rostigen VW-Käfers zu. Er fährt rechts ran, ich reiche ihm das nötige Kleingeld und warte, bis das Paar neben mir aus dem Kollektiv-Taxi ausgestiegen ist, damit ich raus kann. Als sie wieder eingestiegen sind, liegt es an mir, die Autotüre fachgerecht zu schliessen. Lässig, aber nicht zu heftig, damit das klapprige Gefährt nicht auseinanderfällt. Geschafft!

Im Park angelangt, nehme ich meinen gewohnten Platz ein, der mich das Geschehen optimal überblicken lässt. Viele Menschen sitzen oder stehen herum, sind mit Smartphones und Laptops beschäftigt. Zuhause in der Schweiz würde ich der Szene kaum Aufmerksamkeit schenken. Doch hier in Kuba, wo mobile Internetnutzung nicht selbstverständlich ist, ist das Bild etwas Besonderes. Es kann nur eines bedeuten: Hier muss es WiFi geben. Etwas Unsichtbares wie das Internet wird in Kuba durch grosse Menschenansammlungen plötzlich sichtbar.

 

Teil des Ortes werden. Hier, in dem kleinen Park in Havannas Altstadt, wurde 2015 einer von Kubas ersten WiFi-Hotspots eingerichtet. Und eben diesen Ort besuche ich täglich, beobachte und mache Notizen. Heute ist, wie fast immer, praktisch jede Parkbank besetzt. An den Mauern lehnen zahlreiche Menschen. Einige haben sogar Kisten oder Stühle von zu Hause mitgebracht, denn Sitzen ist in diesem Park seit der Ankunft des Internets zum Privileg geworden. Und das rund um die Uhr und bei jedem Wetter. Katzen streunen umher, der Verkehrslärm dröhnt, Kinder tollen herum und fliegende Händler preisen laut Essen an, während die Leute auf den Bänken sich davon nicht beeindrucken lassen und munter per Videotelefonat am Plaudern sind. Die junge Frau neben mir raucht eine Zigarette, macht zahlreiche Selfies und chattet dabei mit einem Liebhaber im Ausland. Die Familie mir gegenüber lässt live das kleine Töchterchen vor der Smartphone-Kamera ein Tänzchen für die Verwandten in Miami aufführen. Ein junger Mann, der am Geländer lehnt, beteuert der Person auf dem Bildschirm seine Liebe, während ein Enkelsohn für die Grossmutter ein Facebook-Profil erstellt und ein paar Jugendliche sich laut lachend ein Gerät teilen. Das Mithören von Gesprächen und das Beobachten der Videotelefonate gehört genauso zum Treiben am Hotspot wie die Internetnutzung selbst.

«Hey, como estas?», begrüsst mich Iván, ein junger Kubaner mit Cap, Hip-Hop-Klamotten und jeder Menge Tattoos. Vor einigen Tagen habe ich ihn hier kennengelernt und seither immer mal wieder angetroffen. Die Internetzone ist sein Arbeitsort. Iván verkauft Smartphones, Kopfhörer und anderes Internetzubehör halblegal im Park. Er gehört zu den jungen Leuten, die sich die Ankunft des Internets geschickt zunutze gemacht haben und mit ihren kleinen Geschäften so einiges mehr verdienen, als der ehemalige Staatsjob ihnen eingebracht hat.

 

Da winkt mir Adriana zu, eine junge und immer gut gelaunte Internetkartenverkäuferin. Ein älterer Herr, der den Boden wischt, lächelt mich zur Begrüssung an. In solchen Momenten freue ich mich, so schnell Teil dieser Hotspot-Szene geworden zu sein. Ich lächle zurück und erinnere mich, wie es dazu gekommen ist, dass ich heute hier im Park stehe und das Geschehen beobachte.

Bachelorarbeit. Schon vor meinem Ethnologie-Studium hatte ich meine Liebe für Lateinamerika entdeckt, den südamerikanischen Kontinent bereist und Spanisch gelernt. Deshalb war für mich klar, in welches Sprachgebiet mich die einmonatige Forschung, welche die Grundlage für meine Bachelorarbeit bilden sollte, führen würde. Warum nicht Kuba, dachte ich mir während eines Seminars über den Sozialismus und stiess bei der Recherche bald auf das Thema «WiFi-Hotspots». Ich begann, alles zu lesen, was ich über Kuba und das Internet auf der Insel finden konnte und sammelte fleissig Kontaktadressen aus Havanna.

Ich erfuhr, dass das Internet auf Kuba nie für den einzelnen Bürger vorgesehen war. Stattdessen sollte das Netz lediglich staatlichen Institutionen und Firmen zur Verfügung stehen. So war das World Wide Web für die kubanische Bevölkerung lange nur auf illegalem Weg oder später gegen immens hohe Kosten nutzbar. Nachdem 2013 die Einrichtung von Internetsälen und die langen Schlangen vor diesen Gebäuden Schlagzeilen machten, war es dann 2015 mit den WiFi-Hotspots für Kubaner zum ersten Mal möglich, an gewissen öffentlichen Orten mit den eigenen Geräten ins Internet zu gelangen.

 

Hatte ich mich erst einmal ins Thema eingelesen, faszinierte mich die Tatsache, dass aus früher kaum besuchten Parks oder Plätzen plötzlich überfüllte Internetzonen wurden, ohne dass sich die Infrastruktur dort geändert hätte. Menschen sitzen am Strassenrand, auf Bänken und Mauern oder bringen eigene Sitzgelegenheiten mit. Das wollte ich mir genauer ansehen, um zu verstehen, welche Bedeutung diese neuen Hotspots quasi über Nacht erhalten hatten und was da vor sich ging.

 

Bienvenido a Cuba. In Havanna angekommen, quartierte ich mich in einer «casa particular» ausserhalb des Zentrums ein. Als erstes nahm ich mit den Menschen Kontakt auf, deren Adresse ich bereits in der Schweiz erhalten hatte. Sie beantworteten wir meine ersten Fragen und halfen mir, die kubanische Kultur kennen und verstehen zu lernen.

Einen in einem Park gelegenen Hotspot kürte ich zu meinem Forschungsort. Hier wollte ich jetzt Menschen befragen, um diesen Ort wirklich zu verstehen. Doch es fiel mir schwer, fremde Leute einfach so anzusprechen und sie um ein Interview zu bitten. Ich erinnere mich, wie ich mit Gabriel, einem Kontakt aus der Schweiz und inzwischen guten kubanischen Freund, am Hotspot stand und versuchte, mich zu überwinden, jemanden anzusprechen, während er im Internet chattete. «Tanja», lachte er, «jetzt mach schon. Geh einfach auf die Leute zu. Sie werden schon mit dir reden. Wie wäre es mit dem da, der sieht doch nett aus. Na los!» So getraute ich mich immer mehr und hatte in den nächsten Tagen bald ein paar Interviews zusammen. Ich redete mit Leuten, die das Internet im Park nutzten und solchen, die das Geschäften ums Internet zu ihrem Beruf gemacht hatten.

 

Mit der Einführung der Hotspots fand eine Kostensenkung statt. Der immer noch sehr teure Preis für eine Stunde Internet frisst heute nicht mehr 20, sondern nur noch 8 bis 10 Prozent des Monatseinkommens eines Kubaners – was ungefähr zwei Schweizer Franken gleichkommt. Den grössten Effekt hatte das neue WiFi auf die Kommunikation mit Verwandten im Ausland. Während ein Anruf früher kaum erschwinglich war, kann heute mit einer skypeähnlichen App online geplaudert werden – auch nicht gratis, aber immerhin viel preiswerter als früher per Telefon. Deshalb versammeln viele Kubaner gleich die ganze Familie an einem der inzwischen 219 Hotspots in ganz Kuba, um so mitsamt Kindern und Bekannten einen Videoanruf ins Ausland zu tätigen.

Man erzählte mir von emotionalen Momenten beim virtuellen Wiedersehen mit entfernt lebenden Verwandten und lustigen Gesprächen, die man mitbekommen habe. Viele redeten davon, wie sich der Park verändert habe, als er zum Hotspot wurde. «Es hat viel mehr Leute hier als früher. Es ist immer etwas los. Aber er ist nur noch selten ein Ort für Gespräche untereinander. Das Internet steht im Vordergrund», berichtete beispielsweise ein älterer Herr.

Ein junger WiFi-Nutzer, mit dem ich bald daruf ins Gespräch komme, erzählt mir, dass er sich einmal hier am Hotspot ins Internet eingeloggt habe und dann, als der Bus kam, schnell eingestiegen sei. Die offene Facebook-App habe im Bus noch ein paar Sekunden funktioniert und alle hätten sich gewundert. «Hast du etwa mobiles Internet? Wie ist das möglich?», hätten sie gefragt, erzählt er. «Aber bei euch in Europa ist das ja immer so. Ihr habt Internet, wo auch immer ihr euch aufhaltet. Sogar im Auto oder auch im Badezimmer, stimmts?», fragt er doch etwas ungläubig.

Erst durch Gespräche hier in Kuba realisierte ich, welche Selbstverständlichkeit das mobile Internet in meinem Schweizer Alltag ist. Auch die Erfahrung, auf junge Menschen in meinem Alter zu treffen, die keine «digital natives» sind, ist kurios. Sie erzählen mir, dass in einem Freundeskreis meist derjenige etwas auf Google sucht, der das am schnellsten kann, denn hier ist googeln eine Kompetenz, und Zeit im Internet ist Geld.

 

Bald konnte ich feststellen, dass ich leichter zu Interviews mit männlichen Internetnutzern kam, während Frauen nur ungern mit mir redeten. Sie wären nun mal eher dafür zu begeistern, mit männlichen Ausländern zu sprechen, erklärte man mir. Und ausserdem würde ich mit meinem europäischen Aussehen und der Tatsache, dass ich in der Welt herumreisen konnte, all das verkörpern, was sie gerne wären oder hätten. Das führt leider zu Neid statt zu Sympathie. Dies frustrierte mich, mit so was hatte ich nicht gerechnet. Je öfter ich von Frauen für ein Gespräch abgewiesen wurde, desto schwerer fiel es mir, andere anzusprechen.

 

Die Welt der Tarjeteros. Während ich so den Park überblicke und über die erste Hälfte meines Aufenthalts in Kuba nachdenke, kommt Diego strahlend auf mich zu. Der 30-jährige sympathische Kubaner mit dem schlichten aber eleganten Kleidungsstil ist, wie man in der Ethnologie sagt, zu meinem Hauptinformanten geworden, zu der Person, die mir viele Türen geöffnet hat. Ohne ihn hätte ich nie so viele Infos erhalten, denn er hat quasi die Geburtsstunde des Hotspots miterlebt, ist jeden Tag hier und kennt fast jeden. Kennengelernt habe ich ihn an einem der Nachmittage, an denen ich fast verzweifelte. Ich war gerade wieder auf demütigende Weise von einer Gruppe junger Mädchen abgewiesen worden und sass verstört auf einer Bank. Da trat Diego auf mich zu und meinte höflich, ob er denn wissen dürfe, was zum Teufel ich die Mädchen gerade gefragt hätte, dass sie so reagierten. Ich erzählte ihm von meiner Bachelorarbeit und meinem kläglichen Frauenansprechproblem. «Kann ich dir irgendwie helfen? Du darfst mich gern interviewen. Ich nutze das Internet aber eigentlich nicht selbst – ich verkaufe nur die Internetkarten. Doch ich bin jeden Tag hier und kenne viele Leute. Vielleicht kannst du eine meiner Kolleginnen befragen», sagte er, setzte sich neben mich und markierte so den Beginn unserer Freundschaft.

Diego gehört zu einer besonderen Gruppe von Hotspotbesuchern – zu den Tarjeteros. Schon an meinem zweiten Tag in Havanna bin ich zum ersten Mal einem Tarjetero begegnet. Es war ein junger dunkelhäutiger Mann, der auf der Strasse meinen Blick suchte und mir auf Englisch verschwörerisch zuflüsterte: «Internet? Braucht du eine Internetkarte?» Als wir über den Preis verhandelten und ich zusagte, führte er mich weg von der Strasse – wegen der Polizei, wie er meinte. Ich folgte ihm mit mulmigem Gefühl zu einem Hauseingang, wo er nervös um sich blickend eine Karte aus seiner Hosentasche fummelte und sie mir schnell in die Hand drückte. Heute weiss ich, dass Internetkartenverkäufer meist junge Männer sind, die sich mit verschiedenen Tricks mehr als die erlaubten drei Internetkarten pro Tag kaufen, die für das Einloggen ins WiFi an den Hotspots notwendig sind. Die Karten verkaufen sie dann im Park mit einem kleinen Zuschlag weiter und ermöglichen den Käufern so, auch ausserhalb der Öffnungszeiten der staatlichen Filialen zu Internetkarten zu kommen – und auch einmal mehr als drei Karten am Tag zu nutzen.

 

Die Nachfrage ist gross, und das Geschäft erlaubt es Diego und anderen Tarjeteros, ihre Familien zu ernähren und manchmal sogar etwas mehr zu verdienen. Doch die kubanische Regierung geht mit Polizisten und Sicherheitskameras gegen den Kartenweiterverkauf vor und verhängt hohe Bussen, wenn jemand erwischt wird. Es trifft, wie mir Diego erklärt, Leute, die nichts klauen und nichts kriminelles tun, sondern wie alle anderen Kubaner auch nur versuchen, dem täglichen Überlebenskampf die Stirn zu bieten.

Einige Tage verbringe ich nun schon in der Gesellschaft von Diego und komme so auch zu Interviews mit seinen Kolleginnen oder «Mitarbeitern». Es ist schon seltsam, dass Leute wie Diego, die in halblegale oder illegale Geschäfte verstrickt sind, viel offener mit mir reden und eher mal ein Interview zulassen als Menschen, die lediglich – komplett legal – das WiFi im Park nutzen. Vielleicht liegt es daran, dass die Tarjeteros und die anderen Verkäufer genau wie ich jeden Tag am Hotspot sind und mich inzwischen kennen, während die Internetnutzer täglich wechseln. Häufig habe ich das Gefühl, dass die Tarjeteros gerne die Chance nutzen, zu betonen, dass sie mit ihren illegalen Geschäften doch eigentlich niemandem schaden.

 

Diego weist mich auf die verschiedensten Vorgänge hin und beantwortet meine unzähligen Fragen. Im Gegenzug will er alles über mein Leben in der Schweiz wissen. Manchmal essen wir zusammen, bevor er von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens Karten verkauft, weil es nachts weniger gefährlich ist. Einige Male weiht er mich ein, bevor er diskret jemandem eine Internetkarte verkauft. Das geht aber so schnell, dass ich es meist trotzdem kaum mitbekomme.

Strukturen. Das Leben im Park ist mir in den vier Wochen vertraut geworden. Anfangs sah ich nur eine Ansammlung internetnutzender Menschen und ein paar Essensverkäufer. Inzwischen erkenne ich in der Menge unterschiedliche Akteure. Ich sehe junge Männer, die in kleinen Gruppen herumlungern, die Leute beobachten und immer mal wieder jemandem zuflüstern «Quieres tarjeta? Möchtest du eine Internetkarte?». Auch für andere Geschäftemacher schärft sich mein Blick. Bei einem Gespräch mit Diego bemerke ich, dass er den Park gedanklich ganz anders einteilt als ich. Für mich gibt es schlicht einen vorderen sichtbaren Teil und einen hinteren, durch Bäume etwas abgeschirmten Teil. Für Diego aber gelten die verschiedenen Sicherheitskameras mit ihren jeweiligen toten Winkeln als Einteilungspunkte. Er orientiert sich auch an verschiedenen Zonen im Park, die je nach Tageszeit ein anderer Verkäufer für sich beansprucht. «Am Nachmittag ist das nicht meine Zone, denn um diese Zeit komme ich normalerweise nicht hierher. Alle wissen, ich verkaufe in der Nacht und dann respektieren sie meine Ecke», erklärt er mir. Die Verkäufer nehmen das Recht auf ihren jeweiligen Verkaufsort sehr ernst und zeigen anderen Tarjeteros früher oder später ihre Missbilligung, falls diese in die eigene Verkaufszone vorstossen. Die «Inhaber» gewisser Zonen bestimmen auch, ob sich Diego gerne dort aufhält oder sie eher meidet. Am einen Ende des Parks zum Beispiel verkaufen zwei Männer, die immer wieder Probleme machen. Deshalb verweilen Diego und ich nur selten dort. Die Zonen und Strukturen, welche die Tarjeteros im Park unterscheiden, sind für den normalen Hotspotbesucher nicht sichtbar, ich jedoch erkenne sie immer besser.

Meine kleine Forschung in Kuba hat mich das Land ganz anders erleben lassen, als dies bei einer blossen Reise der Fall gewesen wäre. Viele meiner Bekannten konnten nicht verstehen, warum ich, anstatt Traumstrände zu besuchen und Rum zu schlürfen, lieber im Park sass und Leute interviewte, auf Sitzbänken über das Internet philosophierte oder Diego beim Anstehen vor den Internetfilialen begleitete. Mein Thema «WiFi-Hotspot» erlaubte es mir, tiefere Gespräche zu führen, das Leben «a lo cubano» ein wenig besser zu verstehen, Freundschaften zu schliessen und eine Weile den Alltag mit den Bewohnern Havannas zu teilen. Eine wunderschöne Erfahrung und eine für mich neue Art, in eine Kultur einzutauchen.

Wie es in Kuba mit dem Internet weitergeht, ist schwer zu sagen, doch meine kubanischen Freunde werden mich mit ihren neu erstellten Facebook-Accounts auf dem Laufenden halten, soviel ist sicher.

 

Fotos: Tanja Luchsinger und Michel Pomares Torres. Dieser Artikel ist zuerst im Globetrotter-Magazin erschienen.