Die Sache mit dem Glück
«Glück» – in einem Satz, mit wenigen Worten, schlicht und kurz. Das kann ich nicht. Was hat sie sich dabei gedacht? Soll sie es doch selbst definieren und nicht die ganze Klasse diese Arbeit machen lassen. Glück kann man nicht definieren, entweder es ist da oder es ist nicht da, das ist alles.

 

Ich erhasche einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Es hat angefangen zu regnen. Die Kälte, die dieser Regen ausstrahlt, scheint mir durch die Glieder zu fahren und mich frösteln zu lassen. Die Heizung ist eingeschaltet. Meine Stirn runzelt sich und ich werde wütend, weil mir nichts einfällt. Oder weil mir nichts einfallen will. Es klopft. „Mann, nicht einmal kann man ungestört sein“, denke ich und weiss, dass es nicht stimmt. Meine Mutter tritt ohne meine Antwort abzuwarten ein. Sie trägt ein Tablett und ich sehe eine dampfende Tasse Kaffee neben ein paar Keksen daraufstehen.

 

„Etwas für Zwischendurch“, erklärt sie, stellt das Tablett neben mir auf den Tisch, versucht zu lächeln und haucht mir einen Kuss auf die Stirn. Ich lächle zurück. Nicht weil es mir nach Lächeln ist, nein, weil ich weiss, dass sie es verdient hat. Jetzt verlässt sie das Zimmer und lässt mich in meiner Einsamkeit zurück. Ich starre den mit Liebe zubereiteten Cappuccino an. Es ist so still, dass mich das Ticken der Uhr an Geräusche einer Baustelle erinnert. Eine Baustelle – etwa das, was mein Leben seit ein paar Wochen ist. Seit der Trennung meiner Eltern. Seit mein Vater uns verlassen hat. Seit der Abwesenheit des Glücks.

 

Seit sich das Glück entschlossen hat, abwesend zu sein, hat meine Mutter beschlossen, es mit der Anwesenheit kleiner Zeichen ihrer Liebe auszugleichen. Zeichen, die ich zu schätzen versuche, auch wenn es mir schwer fällt. Sie kann doch nichts dafür. Nichts, für die Abwesenheit des Glücks. Langsam steigt der Duft des Cappuccinos in meine Nase. Ich nehme einen grossen Schluck und merke wie er die Kälte in mir verdrängt und ein angenehmes, warmes Gefühl zurücklässt. Dieses Gefühl, es ist toll und ich brauche mehr davon. Wieder nehme ich einen Schluck. Und gleich noch einen, einen grossen und dann wieder einen. Jetzt ist die Tasse leer.

 

Ist es möglicherweise wie mit dem Glück? Hat jeder eine Tasse voll davon und muss es schluckweise einteilen? Dann habe ich meines wohl gerade einfach so, ohne nachzudenken, vergeudet. So wie ich es schon immer gemacht habe. Nie habe ich es geschätzt oder zumindest anerkannt, dass ich Eltern habe, die die gleiche Adresse haben. Dieselbe wie ich. Ich habe es nicht geschätzt, dass sie sich beraten mussten, bevor es zur Entscheidung kam. Gemeckert habe ich. Innerlich geschnaubt, dass wir das letzte Kuchenstück durch drei und nicht wie jetzt durch zwei teilen mussten. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, und es regnet immer noch und die Heizung ist immer noch eingeschaltet. Der Regen, er nervt. Ich starre auf mein immer noch leeres Blatt. „Glück“.

 

Was habe ich vorhin gedacht? Eine Familie, gemeinsame Entscheidungen, ein Drittel eines Kuchenstücks. Gedankenverloren lasse ich den Stift in meiner Hand übers Papier gleiten. „Glück ist das, was man zu schätzen lernt, wenn es nicht mehr da ist.“ – „Glück ist vergänglich.“ – „Glück ist die Abwesenheit von Sehnsucht.“

 

Ich lege den Stift ab, wandere zum Fenster und schaue dem Regen zu. Wieder schaudert mir der ganze Körper. Ich schaue zur Heizung, sie ist eingeschaltet.

 

Muss ich dem Regen denn so viel Macht geben, muss ich ihm die Macht geben, seine Kälte in mir auszubreiten? Nein, das muss ich nicht. Das darf ich nicht. Auch wenn der Kaffee – das Glück – auch wenn es ausgeschöpft ist. Selbst wenn. Man kann die Tasse füllen oder nicht? Man kann sie mit dem füllen, was andere glücklich macht. Ich drehe mich zur Tür und starre sie einfach an während dem mir mein Leben wie ein Film vorbeizieht.

 

5 Jahre alt, am Geburtstagstisch. Ich trage das rote Kleid, ich erinnere mich genau. Ich puste die Kerzen aus und bin glücklich. Glücklich über den Applaus, glücklich über die ungeteilte Aufmerksamkeit, glücklich über das schöne Leben.

 

14 Jahre alt, ich komme von der Schule nach Hause. Eine fünf, ich habe tatsächlich eine fünf geschrieben. In Mathe. Ich hasse Mathe. Diese Zahlen, sie sind mühsam. Ich mag sie nicht, sie mögen mich nicht. Mein Vater wartet schon an der Tür, mit diesem neugierigen Blick, der kein schlechtes Ergebnis akzeptiert. Nicht nachdem er so lange und so oft mit mir gelernt hat. Nicht nach diesen unzähligen Tränenanfällen und Wutausbrüchen. Mein Blick verrät ihm, dass das Ergebnis gut ist. Er hebt mich hoch und wirbelt mich herum, sodass ich kichern muss. Meine Mutter steht im Türrahmen, sie kichert auch.

 

16 Jahre alt, vor wenigen Wochen, mein Eltern und ich sitzen am Tisch. Keiner sagt etwas. Beide schauen zum Fenster hinaus. Die vorbeiziehenden Wolken saugen langsam die letzten Sonnenstrahlen ein. Meine Eltern sagen nichts und doch weiss ich alles.

 

Ich hebe meinen Blick wieder und trete auf den Flur hinaus und folge den Geräuschen der Küche. Meine Mutter sitzt dort und schält Äpfel. Ein Kuchenteig steht bereits nebenan bereit. Ein kleiner. Einer für zwei Personen. Wie ich ihren Apfelkuchen doch liebe. Ich hole den zweiten Apfelschäler, der sonst nie benutzt wird, setzte mich zu meiner Mutter und beginne, einen Apfel nach dem anderen zu schälen. Ich merke, wie sie mich ansieht und hebe meinen Kopf. Wir sehen uns in die Augen, sie wundert sich. Sie wundert sich, weil ich mich sonst nicht darum kümmere, was sie macht. Sie kümmert sich darum, was ich mache. Sie lächelt mir zu, dankbar.

 

Schweigend erledigen wir den Rest zusammen und es braucht keiner etwas zu sagen. Zurück in meinem Zimmer, setzte ich mich an den Tisch und nehme den Stift wieder zur Hand. „Glück ist der Entschluss, dem Übrigen, was Glück ausschliesst, keinen Raum zu lassen.“ – „Glück ist Akzeptanz.“ – „Glück ist das Betrachten des Seins und es gut zu finden.“ Ich halte inne und schaue wieder zum Fenster. Es regnet immer noch. Ich schaue zur Heizung, die ist eingeschaltet. Sie ist eingeschaltet, dank ihr habe ich warm, muss ich nicht frieren. Ich schaue wieder dem Regen zu. Wie er fällt. Wie er alles nass macht. Ich lächle.

 

Nein, man hat nicht bloss eine Tasse voll Glück. Immerzu kann man sie füllen. Füllen dadurch, dass man das Hier und Jetzt nimmt und es in das beste Hier und Jetzt verwandelt, das einem möglich ist. Zum letzten Mal nehme ich den Stift zur Hand. „Glück ist der Entschluss dazu.“

 

Dann nehme ich die Cappuccinotasse zur Hand. „Ich werde mir einen neuen machen.“

Foto: Shana Lairssa Klappert, jugendfotos.de