Halbmonde
“Hast du nicht gut geschlafen?”, fragt mich mittlerweile fast jede und jeder am Morgen. Besonders dann, wenn ich mich munter und ausgeruht fühle. Mein Gesicht interessiert es offenbar nicht, ob ich viel schlafe, Augenringe gehören zum Standardpaket.

 

Mein Wecker gönnt mir die Augenringe wahrscheinlich auch, er wird jeden Morgen zweimal geprügelt und die Schlafenszeit um mindestens zwanzig Minuten verlängert. Wieso die Dusch- und Anziehprozedur danach eher ermattend und stressig und eben nicht erholsam wirkt, wäre damit auch geklärt.

 

Wenn ich es dann endlich in die engsten Jeans geschafft und mich in die Küche begeben habe, kommt das Wichtigste: Das Frühstück. Ich, hypnotisiert vom Licht des Kühlschranks, beschäftigt mit den tiefgründigen Gedanken über den Sinn und Unsinn von Plastikverpackungen und etlichem Herausnehmen und wieder Zurückstellen von Verschiedenem, greife dann doch zum Joghurt, welches ich als erstes schon in der Hand hatte. Morgens braucht mein Hirn ein bisschen länger. Später dann aus dem Haus, bin ich meist trotzdem zu früh an der Bushaltestelle, obwohl ich eigentlich jeden Tag das Gefühl habe, ich sei zu spät von zu Hause los. Mit Musik am Lautstärkelimit in den Ohren geht die Busfahrt an den Bahnhof los. Ich sitze dann, wenn möglich, am Fenster, schaue in die Weite und meine Gedanken schweifen über zur ersehnten Freiheit. Es gibt keinen Tag, an dem ich mir an diesem Punkt nicht vorstelle, wie es sein würde, im Zug nach Urdorf einfach nicht auszusteigen, weiter zu fahren und in Zürich den nächst besten Zug ins Ausland zu nehmen. Dabei denke ich an Paris, es sind nur vier Stunden Zugfahrt, die mich von dieser aussergewöhnlichen Stadt trennen. Ich würde dann nach ein paar Tagen weiter, unter dem Ärmelkanal durch und nach England. Ein paar Tage London, dann Edinburgh und zu guter Letzt nach Dublin. Dort würde ich etwas länger bleiben, denke ich immer. Um zu arbeiten, Leute kennenzulernen, neue Eindrücke zu sammeln und mich von der grossen Vielfalt an Künstlern dieser Stadt inspirieren zu lassen. Und wenn ich mich satt gesehen hätte, gäbe es nur noch einen Ort, an den ich wollte: Stockholm. Die Stadt aller Städte und mein Frieden und Segen…

 

An diesem Punkt reisst mich die SBB-Durchsage meist aus meinem Tagtraum und die Realität erinnert mich wieder, warum ich eigentlich zur Schule gehe: Damit Träume eines Tages Wirklichkeit werden.

 

So abrupt, wie ich meinen Fantasien entrissen wurde, schlendere ich den Weg zur Schule nur noch.
Und jetzt versteht vielleicht jemand mehr, wieso mein Gesicht mich morgens mit dunklen Halbmonden schmückt.

Bild: Jens Pustlauk, jugendfotos.org