Demenz trifft Kunst
Demente Menschen beschreiben im Museum ein Bild. Für meine Maturaarbeit über die TimeSlips-Methode habe ich protokolliert.

 

Um die TimeSlips Methode wirklich zu verstehen reicht es nicht, sich nur theoretisch darüber zu informieren. Um erfassen zu können, worum es wirklich geht, muss man einen solchen Workshop selbst miterlebt haben. Nur so kann man die besondere Atmosphäre spüren und in etwa nachvollziehen, welche Bedeutung diese Erlebnisse für Menschen mit Demenz haben. Deshalb wird in diesem Kapitel von einem konkreten Besuch im Zentrum Paul Klee erzählt.

 

 

Es ist Freitag Nachmittag, der 14. März 2015. Beim Zentrum Schönberg Demenz und Palliative Care treffen sich die freiwilligen Helfer und die Menschen mit Demenz. Heute nehmen sechs Menschen mit einer dementiellen Erkrankung daran teil. Die Gruppe macht sich auf den Weg ins Zentrum Paul Klee, lockere Gespräche entwickeln sich. Am Treffpunkt wird man schon von denselben beiden freundlichen und aufgestellten Frauen wie bei den letzten Malen erwartet. Frau Wyss wird heute die Rolle der Moderatorin übernehmen und Frau Ehringer das Protokoll führen. Letztes Mal war es genau umgekehrt. Es werden Namensschilder verteilt und alle Teilnehmer einzeln mit Namen begrüsst. Der Händedruck und der Blick in die Augen heisst sie Willkommen. Nun macht man sich gemeinsam durch das Museum, auf den Weg zum heutigen Bild, vorbei an anderen Kunstschätzen. Vor dem ausgewählten Bild stehen bereits Stühle im Halbkreis. In der ersten Reihe sitzen die dementen Menschen, dahinter die Begleitpersonen. Nachdem jeder einen passenden Platz gefunden hat und alle ruhig sitzen, wird das Geschichteerfinden wie jedes Mal von der Moderatorin mit den bedeutsamen Worten eröffnet: „Alles was Sie sagen ist richtig und wichtig! Heute sind wir Geschichten-Erfinder“.

 

Es geht los mit der Eröffnungsfrage: „Was sehen Sie auf diesem Bild?“. Alle Blicke sind auf das heutige Bild gerichtet, zuerst muss man sich darauf einlassen, sich orientieren. Sehr bald beginnt es spontane kurze Antworten zu regnen. „Ist das ein Kopf?“, meldet sich die erste Person. „Ein grosses Kinn sehe ich, und darunter ein Stück des Oberkörpers“ wird geantwortet. „Ein Mann oder eine Frau, jedenfalls ein Mensch!“, sagt eine dritte Frau bestimmt, und einige andere nicken zustimmend. „Diese Frisur“, murmelt jemand. „Sind das Augen oder ist es eine Brille? Das wären eigenartige Augen, aber sie sind jedenfalls am richtigen Ort“, ergänzt ein aufmerksamer Herr.

 

 

„Wer ist diese Person?“, fragt nach einer kurzen Stille die Moderatorin. Es fällt auf, dass die meisten Betrachter mit sehr aufmerksamer Haltung da sitzen, leicht nach vorne geneigt, den Blick klar auf das Bild gerichtet, mit vor Konzentration leicht geöffnetem Mund. „Das ist natürlich Louise, Louise ist ihr Name!“, die Frau, die das sagt, meldet sich gerne zu Wort, im Geschichteerfinden ist sie sozusagen Profi. Manchmal hat sie ruhigere Tage, aber heute definitiv nicht, sie sagt was sie denkt. „Nein, das ist doch Margrit“, fügt eine auf der anderen Seite sitzende Frau hinzu. „Es ist der Freche“, sagt ein Herr, mehr zu sich selbst und dann noch einmal für uns Andere hörbar, „es ist der Freche“. Die dominanteste Frau setzt sich vorerst aber durch, „es ist wirklich Louise!“, sagt sie, und die anderen nicken.

 

Die Moderatorin hat sich bis hierhin eher zurückgehalten, manchmal musste sie jemanden auffordern lauter zu sprechen, und einige Male hat sie jemanden gezielt noch einmal gefragt. „Wie alt ist diese Louise?“, will sie nun von den dementen Menschen wissen. Zuerst Ruhe, dann: „Fragen wir sie doch, sie soll es uns sagen!“. Jemand der aufgefordert wurde etwas zu sagen erwidert, „ich weiss das nun wirklich nicht, ich weiss es nicht“, darauf sagt die Moderatorin, „wir wissen es alle nicht, aber wir können es uns ausdenken, es ist unsere Geschichte, alles was wir sagen ist richtig!“. Danach, „hmm 44?“, „schwierig zu sagen, vielleicht 70“, „ich denke sie ist 62“, „oder sie könnte auch 175 sein“. Wissend streckt die eine Dame ihren Finger in die Höhe und sagt: „eine Dame fragt man nicht nach ihrem Alter, das ist etwas indiskret!“, allgemeines Gelächter folgt.

 

Um die Geschichte weiter zu spinnen, fragt Frau Wyss, „Wo ist Louise?“. „Ich denke sie könnte in Bern sein“, sagt ein Herr mit zittriger Stimme, „Ja, zum Beispiel am Bahnhof! Sie wartet dort auf den Zug“, ereifert sich die durchsetzungsfähige Dame. Nach einer Pause und gezielten Aufforderung sagt ihre Sitznachbarin, „und sie will möglicherweise noch eine Zeitung kaufen“. Eine andere Idee hat die Frau auf der anderen Seite, „also ich denke, sie ist bestimmt in den Bergen“. „Was meinen Sie denn?“, Frau Wyss nimmt ganz direkten Augenkontakt mit einer kleinen, eingesunkenen Frau auf, die bis jetzt noch kaum etwas beigetragen hat. „Also… also… ich habe eine Frage, was wollte denn der Maler dort beim Hals? Das sieht so merkwürdig aus“, die Blicke der anderen werden forschender und fragend, bis schliesslich jemand auf eine Idee kommt: „Könnte es ein Halstuch sein? Aber nein, nein bestimmt nicht! Es geht da dann nicht mehr weiter“. Da man nun vom Thema abgeschweift ist, wiederholt die Moderatorin ihre Frage, und es kommen neue Ideen. „Also ich finde einfach sie hält den Kopf so, als sässe sie im Theater“, kommt es stockend aus der einen Frau heraus, und man kann fast beobachten, wie sie etwas grösser und ihr Blick etwas klarer wird. „Wenn du meinst. Es könnte doch auch im Kino sein, dort schaut sie sich vielleicht einen Film an, genau wegen diesem Blick“, beobachtet jemand anderes. Wieder kehrt kurz Ruhe ein, alle sind konzentriert am Nachdenken. „Das ist aber ein schwieriges Bild, da haben sie aber eines ausgewählt!“, stösst plötzlich die laute Dame heraus, wieder folgt darauf zustimmendes Gelächter und Nicken seitens der dementen Menschen, aber auch der dahinter sitzenden Begleitpersonen.

 

Nun wird die Zusammenfassung bis hierhin vorgelesen:

 

Ein Kopf, ein grosser Mund, ein grosses Kinn und noch ein Stück des Oberkörpers – handelt es sich um einen Mann? Eher um eine Frau... auf jeden Fall um einen Menschen mit eigenartigen Augen, die jedoch am richtigen Ort sind. Ob die Person Luise heisst oder Margrit wissen wir nicht. Es ist ein Mann: der Freche. Luise könnte 44 Jahre alt sein, 70, 62. Wir fragen sie doch, sie soll es sagen. Aber eine Dame fragt man nicht nach ihrem Alter, denn sie könnte auch 175 sein! Die Dame ist in Bern am Bahnhof, kauft eine Zeitung und wartet auf den Zug. Eventuell ist sie auch in den Bergen, wir haben keine Ahnung. Übrigens, was wollte der Maler da beim Hals? Es ist kein Halstuch und es geht da nicht weiter.

 

Während die Protokollantin Frau Ehringer die Zusammenfassung vorliest, wird es ganz still. Die dementen Menschen hören sich den ersten Teil der von ihnen eigens erfundenen bisherigen Geschichte an und nicken zustimmend. Manchmal wird auch ein prüfender Blick zur Bestätigung auf das Bild geworfen. Der rote Faden dient der Orientierung, und es entstehen womöglich schon die ersten Ideen wie es weitergehen könnte.

 

„Wie fühlt sich Louise?“, fragt Frau Wyss nun als Wiedereinstieg. Zu diesem Thema fällt den Meisten etwas ein. „Sie fühlt sich nicht so sicher“, murmelt eine Frau etwas undeutlich von der Seite. Zur Bestätigung wiederholt es die Moderatorin, „Louise fühlt sich nicht so sicher“, die zurückhaltende, vielleicht scheue Frau nickt bekräftigend, ihr Beitrag wurde soeben wertgeschätzt. Schon kommt der nächste Einfall von ihrem Sitznachbar: „Sie ist eine Freche“. Das jedoch findet der eine Herr unerhört, „sie ist doch keine Freche, schau sie dir einmal an! Eher ganz gwundrig finde ich“, „oder bescheiden“, fügt noch jemand hinzu. „Was denken Sie?“, fragt die Moderatorin ermutigend die eine Dame. „Es könnte doch sein, also ich denke… vielleicht ist sie durcheinander“. Welch eine gute Zusammenfassung, sie hat es auf den Punkt gebracht. Dann fällt noch jemandem etwas wichtiges auf: „Sie hat zwar Schultern, aber gar keine Ohren, hört sie überhaupt etwas?“, und prompt bekommt sie eine Antwort: „Fragen wir sie das doch einfach!“, von derselben Frau, die immer auf die Idee kommt, Louise doch einfach zu fragen. Wie aus einer Erinnerung erwähnt eine Frau: „Sie sieht in die Ferne, weil der Zug abgefahren ist, deshalb ist sie vielleicht auch so wütend!“. „Sie sieht eher lustig aus, als könne sie über so etwas lachen!“, findet eine andere Teilnehmerin, „oder sie ist traurig, weil sie schliesslich das Klee Museum in Bern besuchen wollte“. „Ja, jetzt sucht sie einen neuen Fahrplan, weil sie schnell nach Hause möchte, oder auf Besuch zu irgendwem“ fällt es jemandem ein.

 

Um das Gespräch weiter zu führen, knüpft Frau Wyss mit der nächsten Frage an: „Hat Louise denn zuhause eine Familie?“. „Ich denke sie hat einen Mann und zwei Söhne“, „sie sieht doch so traurig aus, ich denke nicht“, und zu guter Letzt, „nein sie hat doch keinen Mann bekommen, dafür ist sie viel zu hässlich!“. Da schmunzelt wieder der eine oder andere.

 

„Wohin wollte Louise reisen?“, fragt die Moderatorin nun interessiert. Empört meldet sich die auffällige Dame zu Wort: „Nun reichts dann aber langsam, das ist wirklich indiskret, die Louise darf doch hingehen wo sie will!“, und ein anderer Herr fügt bedacht hinzu, „von den Lippen her scheint sie mir noch jung zu sein“.

 

Die Zusammenfassung wird an dieser Stelle noch einmal von Anfang an vorgelesen, hier die Fortsetzung:

 

Die Louise fühlt sich nicht so sicher. Schwierig zu sagen, denn sie ist auch gwundrig, frech und gwundrig, und wiederum ganz bescheiden. Ein kleines Durcheinander.

 

Nur eine Schulter ist sichtbar, aber keine Ohren. Sie schaut in die Ferne, sieht, dass der Zug abgefahren ist und ist nun etwas wütend, aber sie könnte geradesogut auch darüber lachen. Sie könnte aber auch traurig sein über den verpassten Zug, denn sie wollte das Klee Museum in Bern besuchen. Nun sucht sie im Fahrplan nach dem nächst möglichen Zug nach Hause oder vielleicht will sie noch einen Besuch machen, denn Familie hat sie wahrscheinlich nicht. Sie hat bestimmt keinen Mann bekommen, sie ist zu hässlich. Doch, einen Mann hat sie und zwei Söhne.

 

Wen sie besuchen wird, können wir nicht gut fragen, das ist etwas indiskret. Sie kann hingehen wo sie will. Denn von den Lippen her ist sie noch jung.

 

Abschliessend fragt die Moderatorin: „Wen denkt ihr möchte Louise besuchen?“. Darauf hat die eine Dame schon gewartet, „Sie darf doch hingehen wo sie will“, sagt sie. „Vielleicht hat sie ja Verwandte, die in der Nähe wohnen“, „oder zu ihrem Mann“, vermuten andere. „Nein, wie gesagt, sie hat keine Chance, sie ist viel zu hässlich. Nur reich, eingebildet und hässlich“, kommt es eilig von der Vertreterin dieser Meinung. „Oder sie geht einfach wie gewöhnlich zum Hausarzt“, kommt es leise von der scheuen Dame, „ach und sogar der erschrickt wenn er sie sieht!“, erwidert die andere Frau, und alle lachen wegen ihrer Überzeugung. „Aber ich frage mich immer noch dasselbe, was soll dieses Viereck dort beim Hals?“, will die scheue Dame noch einmal herausfinden. „Ich denke es könnte der Hals oder das Hemd darstellen, was meint ihr?“, daraufhin allgemeines Nicken. Der letzte Teil der Geschichte tönt wie folgt:

 

Vielleicht besucht sie Verwandte oder geht doch noch zu einem Mann. Nein, sie ist viel zu hässlich, sie geht zum Hausarzt. Der erschrickt nicht, wenn er sie sieht, die reiche, eingebildete Dame mit dem Ohrschmuck, den der Maler vielleicht gemeint hat mit dem Viereck, das ebenso gut den Hals oder das Hemd darstellen könnte.

 

„Jetzt brauchen wir noch einen Titel für unsere Geschichte, hat jemand eine Idee?“, die spannende Suche nach einem passenden Titel wurde soeben eröffnet, und die Diskussion bricht los. „Die hässliche, eingebildete Dame!“, kommt es wie es kommen musste. „Nein, die schaut ja einfach, lass sie in Ruhe“ ertönt eine Antwort. „Die Frau, die einmal jung war“, kommt als Idee des Herrn. „Wie wäre es mit ‚Die unglückliche Frau‘?“ fragt die scheue Dame, „oder ‚als ich noch jung war‘“ fällt dem Herrn noch ein. „Ganz klar ‚die eingebildete Dame‘“ sagt eine Frau bestimmt, „nein, eingebildet ist sie bestimmt nicht“, sagt ihre Sitznachbarin leise. „Was meint ihr nun, ist sie eine eingebildete Dame oder nicht?“, formuliert Frau Wyss das Problem. „Diese Frau ist ganz eindeutig nicht unglücklich, sondern nichts als frech, vorwitzig und frech!“, kommt es von jemandem, gar nicht passend zur Frage. „Ist sie denn nun unglücklich oder frech?“, fragt eine verwirrte Frau, „aber sie lacht ja“, bemerkt eine Andere. Nach einer Abstimmung einigen sich alle, ihrer Geschichte den Titel: „Die unglückliche, vorwitzige Frau“ zu geben.

 

Das Bild von Paul Klee hat den Titel: „der Mann mit dem Mundwerk“.

 

Nach dem spannenden gemeinsamen Geschichteerfinden macht man sich zusammen auf den Weg zum Kaffeetrinken und Kuchenessen. In manchen Gesprächen geht es noch einmal um das Bild, um Louise. Anschliessend wird die Geschichte zum Schluss vollständig vorgelesen. Alle hören gespannt zu, manche nicken und bei den lustigen Stellen wird gelacht. Als die Protokollantin fertig ist, applaudieren alle im Raum gemeinsam. Jeder bekommt die Geschichte und das Bild, ausgedruckt in einem Mäppchen. Der Nachhauseweg dauert viel länger als der Hinweg, man merkt wie müde die dementen Menschen sind. Sie wirken gelöst, die Stimmung ist sehr zufrieden.