Sehnsucht
Am Morgen wache ich auf, «ich hasse diese Welt». Ich mache mich bereit für die Schule und fahre los.

 

Ich bekomme etwas bessere Laune, die frische Luft und die Ruhe tun mir gut, ich fühle mich frei. In der Schule angekommen, bin ich die einzige, die wach ist und den Leuten lächelnd und gut gelaunt einen schönen Tag wünscht. "Du musst fröhlich sein und ihnen deine positive Energie spritzen." Nach der zweiten Lektion werde ich müde. Ich bekomme kalt, ziehe mir meine Jacke und einen meistens geliehenen Schal an und sitze den Rest des Morgens apathisch und träumend in der Klasse. Mittags bin ich alleine, ich hasse es den Menschen beim Essen zuzusehen und mit meiner besten Freundin fange ich immer an zu streiten, wenn es darum geht, wer mittags wie viel essen sollte. In meiner Klasse bin ich das Mädchen, das nicht isst. Man ist es sich gewohnt, weshalb mir weder Essen angeboten noch mein Alleinsein über Mittag kritisiert wird. Nur gewisse Jungs versuchen mir ständig klar zu machen, dass wenn ich essen würde, ich nicht ständig frierend und vermummt herumlaufen müsste, während meine Kollegen im T-Shirt dasitzen.

 

Am Nachmittag wünsche ich mir, dass ich tot wäre. Ich stelle mir vor, wie ich meine Adern aufschneide, Tabletten nehme, vor den Zug springe etc. Es sind schöne Gedanken, Gedanken von Freiheit. "Vielleicht kommt mich ja ein Engel holen, dann kann ich mit ihm wegfliegen, ganz in Frieden." Ich fahre wieder nach hause, ohne eine Ahnung zu haben, was wir an diesem Tag in der Schule gemacht haben. Auf dem Nachhauseweg geht es mir gut. Das Atmen fällt mir zwar schwer und die Steigungen sind anstrengend, aber ich bin frei.

 

Zuhause angekommen überflutet mich ein Gefühl von Hass und Verzweiflung. Ich hasse mich selber, fühle mich alleine und ungeliebt, habe das Gefühl niemanden zu interessieren. Ich möchte sterben, möchte mich töten, viel Blut, viel Gewalt, gleichzeitig aber auch einfach weg sein, ohne mir selber das Leben nehmen zu müssen. Ich fühle mich schuldig. Die Stimme in meinem Kopf schreit und schreit und hört nicht mehr auf: "Ich will sterben! Ich will sterben! Ich hasse mich! Hilfe! Ich will sterben! Wieso hilft mir denn niemand!? Ich will sterben! Bitte lasst mich sterben! Bitte!" Verzweiflung. Aber ich darf nicht. Ich habe es versprochen. Ich hasse dieses Versprechen. Ich gehe raus, denn jetzt ist es dunkel. Ich ziehe mir noch mehr Kleidung an und lege mich auf den kalten Feldweg. Ich blicke in den Himmel und geniesse die Einsamkeit und die Ruhe. Ich wünschte, es wäre immer Nacht. Ich fange an zu träumen, stelle mir verschiedene Lebenssituationen vor, denke an bestimmte Leute bis meine Gedankenreise das gleiche Ende wie immer nimmt "hoffentlich kommt ein Engel und holt mich". Ich weiss, dass er nie kommen wird, obwohl ich es mir so sehnlichst wünsche. Danach gehe ich wieder nach hause, bin ohnehin schon wieder völlig verzweifelt. "Soll ich sie anrufen? Nein, dafür geht es mir noch zu gut."

 

Ich setze mich auf meinen Teppich wo der Drang meine Adern zu öffnen mit jeder Sekunde zunimmt. "Tus einfach" " Nein, ruf sie an! Sie hat dir gesagt, du darfst sie anrufen, wenn es dir nicht gut geht!" "Dir gehts fast jeden Abend gleich und doch stehst du am nächsten Morgen wieder auf, wieso solltest du sie also genau heute anrufen? Sie hat bestimmt besseres zu tun als eine 18-Jährige, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegt, zu beruhigen."

 

Was soll ich also tun? Ich hasse mich so sehr! Möchte einfach nur noch sterben! Bitte! Einfach sterben! Aber ich darf nicht. Ich beschliesse sie nicht anzurufen. Ich wüsste ohnehin nicht, wie ich ihr meine Gefühlswelt erklären sollte.

 

Ich versuche zu schlafen, um am nächsten Tag dasselbe wieder von neu zu durchleben.

* Name geändert.
Fotos: Saskia Kreis, jugendfotos.org