Cindy
«Cindy, öffne die Tür! Du kannst nicht ewig da drin braten… Lass mich mit dir reden – bitte.» Und ob ich das konnte. Das Stiefmonster hatte ja keine Ahnung, was ich alles konnte.

 

Wie üblich unterschätzte sie mich vollkommen, und das war ein fataler Fehler. Während sie nämlich heute Abend mit meinem Vater zusammensitzen und mit ihm das Ich-habe-alles-versucht-aber-sie-spielt-wieder-den-Sturkopf-Gespräch führen würde, würde mein Fenster längst offenstehen und der Wind meine Vorhänge streicheln, genauso wie SEINE Hände mich streicheln würden. Bemerkte ich einen plötzlichen Anflug schlechten Gewissens, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging? Mag sein. Hatte ich die leiseste Absicht, meinen Plan deshalb über den Haufen – oder besser: aus dem Fenster zu werfen? Ganz bestimmt nicht. Für den Ernstfall hatte ich mich selbstverständlich abgesichert und in einem vertraulichen Gespräch mit meiner Schwester – Stiefschwester – in Erfahrung gebracht, dass sie in meinem Alter keineswegs irgendwelche Vorschriften über die Zeit ihrer abendlichen Rückkehr einzuhalten hatte. Ganz im Gegensatz zu mir.

 

„Cindy, mach dir deswegen keinen Kopf. Mama will dir damit ganz bestimmt nicht wehtun. Sie meint es gut mit dir!“ Es war zu spät. Mein Fazit bestand in der logischen Schlussfolgerung, dass das Stiefmonster alles – ich wiederhole: ALLES dafür tat, mir mein Leben zur Hölle zu machen. Und plötzlich fügte sich alles zusammen wie bei einem Puzzle. Die Fenster, die ich jede Woche zu putzen hatte, standen in keinem Vergleich zu dem Bisschen Wäsche, das meine Schwester jeweils im Sitzen falten durfte. Das tägliche Abräumen nach dem Essen war ebenfalls eine Schikane, wenn man bedachte, dass SIE nichts anderes zu tun hatte, als in der Zwischenzeit ein, zwei Pfannen abzuwaschen – und dabei ihre feinen Hände erst noch im warmen Wasser baden konnte. Der Versuch, mich davon abzuhalten, in der heutigen Nacht der Liebe meines Lebens die Augen zu öffnen, war zweifelsohne ein weiterer grausamer, hinterhältiger Schachzug von Seiten des Stiefmonsters mit dem Ziel, mich noch mehr zu demütigen. Gott sei Dank hatte ich die Standhaftigkeit und Willenskraft meiner Mutter geerbt, weshalb ich mir sicher war, mich gegen diesen Übergriff des Bösen zur Wehr setzen zu können, und weshalb ich endgültig beschloss, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

 

„Cindy, hast du eigentlich einen Knall? In diesem Fetzen kannst du dich unmöglich der Öffentlichkeit zeigen! Dieses Kleid – wenn man es ein Kleid nennen kann – schreit nicht ‚sexy‘, das schreit ‚nuttig‘. Zieh dich aus, du kannst eins von mir haben.“ Meine beste Freundin schüttelte den Kopf und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Ich wurde wütend und holte aus zur Retourkutsche; dieses Mal würde sie nicht die Entscheidung für mich treffen: Über diesem Kleid hatte ich Blut und Wasser geschwitzt, und das meinte ich wortwörtlich – ich hatte mich beim Nähen ganze dreimal in den Finger gestochen. Dieses Prachtstück repräsentierte alles, wofür ich heute Nacht hier war, und ich hatte mich ganz bestimmt nicht der Gefahr einer Flucht aus dem ersten Stock meines Hauses ausgesetzt, um von ihr zu hören, was ich tragen oder nicht tragen konnte. Das musste sie doch verstehen. Als wir zusammen ihr Haus verliessen, trug ich eine ihrer Hosen unter meinem Kleid und hatte die High Heels gegen Flip Flops eingetauscht. Zugegebenermassen: Es war eine schöne Hose.

 

„Cindy, da drüben ist er. Bleib hier stehen, ich werde uns erst Drinks besorgen.“ Ich setzte mich in Bewegung und steuerte ihn an. Dabei fing ich den Rhythmus der Musik auf und nickte im Takt mit dem hämmernden Bass. Als ich ihn erreichte, hatte er seine Augen geschlossen und schien mich nicht zu bemerken. Schnell legte ich ihm meine Arme um den Hals und stimmte in sein Wippen zur Musik ein. Er schien mich noch immer nicht zu bemerken. Stattdessen leerte er seine Bierflasche in einem Zug und stellte sie zu den übrigen auf den Tisch. Ein verklärtes Lächeln huschte nun über sein Gesicht, worin ich die Aufforderung sah, ihn endlich zu seinem Glück zu zwingen: Ich küsste ihn. Lange. So lange, bis mich jemand kompromisslos und ohne Vorwarnung von ihm losriss und mich am Arm nach draussen zerrte. Als ich dem Stiefmonster ins Gesicht sah, war es bereits zu spät: Mein linker Flip Flop war weg.

 

„Cindy, da ist jemand für dich an der Tür!“ Ich hätte durch den Spion schauen sollen. Vor mir stand – ER. Ich schluckte leer. Wortlos übergab er mir einen Plastiksack und öffnete den Mund. Ich glaubte zu wissen, was er mir sagen wollte, doch aus irgendeinem Grund schien er nicht die richtigen Worte zu finden. Ich wollte ihm entgegenkommen und schloss meine Augen. Als mein Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt sein musste, verlor ich das Gleichgewicht und kippte beinahe vornüber. Ich öffnete meine Augen wieder und konnte gerade noch seinen Schatten erkennen, der in Windeseile um die Hausecke Richtung Strasse flitzte. Wie in Trance drehte ich mich um und schloss die Tür. Sobald ich in meinem Zimmer war, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten: Ich würde mich wohl oder übel für immer von meinem Märchentraum verabschieden müssen. Mein Blick fiel auf den Plastiksack, den ich achtlos in die Ecke geworfen hatte. Langsam hob ich ihn auf und griff hinein. Seufzend schaute ich mich nach meinem Handy um: Nun konnte ich meiner besten Freundin endlich ihre Flip Flops zurückgeben.

Foto: Jessy Seywald, jugendfotos.org