Er überlebte nur dank einer List
Samedin Selimovic entging dem Massaker von Srebrenica, weil seine Mutter ihn als Mädchen verkleidete. Heute ist der 21-jährige dank seinen Sprüchen, die er auf diversen sozialen Netzwerken verbreitet, schweizweit bekannt. Er berichtet von seiner Vergangenheit.

 

Entspannt lehnt sich der junge Mann zurück. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Durch die Bewegung knarrt der weisse Sessel im Agenturbüro leise. Danach ist es wieder still. Angenehm still. Diese Ruhe ist ein Ausdruck der Zufriedenheit, die den 21-jährigen Schweizer mit bosnischen Wurzeln umgibt. Langsam wandert sein Blick über den grossen weissen Tisch, die stylischen Sessel und das grosse abstrakte Bild an der Wand, bevor er sich wieder seinem Gegenüber zuwendet.

 

Er lächelt noch immer. Es ist ein aufrichtiges, ernst gemeintes Lachen, das sich in seinen dunklen Augen wiederspiegelt. Genüsslich nimmt er einen Schluck Eistee und beginnt dann ein lockeres Gespräch. Die Stille weicht seinem Sankt Galler Dialekt, der jetzt das Büro erfüllt. Aus den Worten sprechen tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit. Vielleicht auch ein bisschen Stolz. Das Bewusstsein, etwas aus seinem Leben gemacht zu haben, erfolgreich zu sein, etwas erreicht zu haben. Der junge Mann ist schweizweit ein bekannter Social Media Star. Allein auf Instagram folgen ihm über eine Drittelmillion Menschen. Sprüche wie »Jeder Mensch bringt Glück. Die einen, wenn sie kommen und die anderen, wenn sie gehen« begeistern seine Fans Tag für Tag.

 

Ausserdem hat er soeben seine Lehre zum Detailhandelsfachmann abgeschlossen und befindet sich auf der Sonnenseite des Lebens. Doch vor einigen Jahren sah das Leben des Samedin Selimovic noch ganz anders aus als an diesem wunderschönen Nachmittag. Der Schweizer Social Media Star mit bosnischen Wurzeln kennt auch andere Zeiten in seinem Leben. Das Lächeln stirbt auf seinen Lippen und seine Augen verlieren ihren fröhlichen Ausdruck, als er von der Zeit berichtet, in der ihm »der Boden unter den Füssen weggezogen wurde«.

 

Das war im Jahr 2008, als sein Vater am dritten Herzinfarkt starb. Dieser Verlust stürzte den damals 13-jährigen in die bisher grösste Krise seines Lebens. Er berichtet, wie er versucht habe, seinen Vater in der Familie zu ersetzen, von einem Tag auf den anderen viel mehr Verantwortung übernehmen musste. »Ich kam psychisch nicht mehr klar«, so der erklärte Familienmensch. Deshalb habe er eine Psychiaterin aufgesucht, die ihm geraten habe, seine Gedanken aufzuschreiben und das schicksalshafte Ereignis so zu verarbeiten. Daraus entstand dann seine Facebookseite, auf welcher er täglich Sprüche und Gedanken postet, der Grundstein seines heutigen Erfolges.

 

Doch damals war der Tod seines erst 32-jährigen Vaters einfach »e Schlag id Frässe«. Mit seinem Vater hatte Samedin Selimovic eine enge Beziehung: »Mein Vater war mein grösstes Vorbild, er wurde mir genau in einer Zeit genommen, in der ich ihn am meisten gebraucht hätte.« In dieser Zeit sei all das explodiert, was er vorher immer in sich hineingefressen habe. Dazu gehören die schrecklichen Dinge, die Samedin Selimovic als Kind im Bosnienkrieg miterleben musste. Das Massaker von Srebrenica überlebte der damals 9 Monate alte Junge nur durch eine Verzweiflungstat seiner Mutter: Sie verkleidete ihren Sohn als Mädchen und rettete ihm damit das Leben. Hätte sie das nicht getan, wäre am 11. Juli in Srebrenica ein weiterer unschuldiger Mensch ermordet worden. »Sie hat das sehr schlau gemacht«, sagt Samedin Selimovic heute anerkennend über seine Mutter.

 

Mit dieser Verkleidung konnten Mutter und Sohn mit dem Bus nach Tuzla fliehen. Der Vater, damals erst 19-jährig, wurde im Kampf vier Millimeter neben dem Herzen angeschossen, sein früher Tod ist eine Spätfolge dieser Verletzung. »Ohne diesen Krieg würde mein Vater heute noch leben«, sagt Samedin Selimovic wehmütig, aber keineswegs verbittert. Samedin Selimovic ist ein sehr zugänglicher, offener und ehrlicher Mensch, der viel mit den Händen redet und mit keiner Frage überrascht werden kann. Begeistert erzählt er, warum er Fussballschiedsrichter geworden ist. »Ich wollte auf der anderen Seite stehen und mehr Verantwortung übernehmen als beim Fussballspielen selber«, so Samedin Selimovic.

 

Ausserdem berichtet er, wie ein perfekter Tag in seinem Leben aussieht: »Ich verbringe sehr gerne Zeit mit meiner Familie – beispielsweise könnten wir alle zusammen Grillen gehen«. Seine Mutter und seinen jüngeren Bruder bezeichnet er als die wichtigsten Menschen in seinem Leben. Nicht fehlen darf auch die richtige Musik. Für Samedin Selimovic ist das ganz klar Hip hop und R’n’b.

Keine Worte

Doch bei zwei Themen wird es ganz still im Raum, aus dem fröhlichen jungen Mann wird ein ernster Mensch, dessen Gesicht von einem melancholischen Ausdruck gezeichnet ist. Diese Themen sind zum einen der Tod seines geliebten Vaters und zum anderen die Jugoslawienkriege. Samedin Selimovic ringt um Worte, offensichtlich fällt es ihm schwer, darüber zu sprechen. Zu dem Massaker von Srebrenica sagt er: »Man kann es nicht beschreiben und nicht fassen, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann«. Es sei unfassbar, wie grausam ein Mensch sein könne. Samedin Selimovic sagt ganz klar, er hasse niemanden, aber er verurteile jeden Kriegsverbrecher – ganz egal ob Serbe, Kroate oder Bosnier. »Nur Gott hat das Recht, einen Menschen wegzunehmen«, ist der Fussballfan überzeugt. Es sei sehr wichtig, dass sich Europa immer wieder an das erinnere, was in Bosnien und speziell in Srebrenica geschehen ist. »So etwas darf sich nie, wirklich nie wiederholen« sagt Samedin Selimovic, während er das Gegenüber eindringlich mit seinen braunen Augen fixiert. Eine entscheidende Rolle spiele dabei die Kommunikation. »Wir sollten Konflikte mit Reden regeln anstatt mit Waffen«, sagt er.

Langer Weg in die Schweiz

Seine ersten fünf Lebensjahre verbrachte der zielstrebige Selimovic in einem Land, das sich von einem Bürgerkrieg erholen musste. Von 1992 bis 1995 bestand die Kommunikation in Bosnien fast ausschliesslich aus Schüssen. 1999 flüchtete Samedin Selimovic zusammen mit seinen Eltern aus Bosnien in die Schweiz. Der fünfjährige Junge ging in den Kindergarten, später in die Schule und integrierte sich mit der Zeit gut. Heute blickt Samedin Selimovic mit guten Gefühlen auf diese Zeit zurück, bezeichnet sie als eine der glücklicheren Perioden seines Lebens. »Wir waren in der Schweiz, es ging uns gut, der Vater lebte noch«, begründet er dies. Doch dann wurde diese Idylle jäh beendet. Im Jahr 2006 wurde die ganze Familie aus der Schweiz ausgewiesen, da in Bosnien kein Krieg mehr herrschte. »Du kannst nicht sagen »nein ich möchte nicht«, du musst einfach gehen«, sagt Selimovic dazu und ergänzt: »Wieder zurück in Bosnien fühlte ich mich fremd, konnte die Sprache nicht und war anfangs traurig«. Doch auch nach dem erneuten Umzug war die Odyssee der Familie Selimovic noch nicht beendet. Als der Vater 2008 starb, sah die arbeitslose Mutter keine Perspektive mehr in Bosnien und beschloss, das letzte vorhandene Geld für eine neuerliche Reise in die Schweiz einzusetzen.

 

Doch auch danach war noch nicht alles ausgestanden, erst nach einem langen Kampf mit den Schweizer Behörden bekam Samedin Selimovic den B-Ausweis und konnte sich damit dauerhaft in der Schweiz niederlassen. Insgesamt verbrachte der selbstbewusste junge Mann sieben Jahre in Bosnien und 13 in der Schweiz. Was bedeutet Heimat für Samedin Selimovic? »Heimat ist ein Ort, an dem man mit dem Herzen ist. Und das ist für mich die Schweiz«, sagt der Sankt Galler. Mit seinem Herkunftsland Bosnien verbinde er neben allen negativen Erlebnissen auch Positives wie seine Wurzeln, die Familie allgemein und die offene Lebenseinstellung der Menschen dort. Aber er betont: »Bosnien konnte mir nie das geben, was die Schweiz mir gibt.« Für sein Herkunftsland wünscht sich der spontane junge Mann, dass die Menschen aus den verschiedenen Religionen in Frieden miteinander zusammenleben könnten. »Miteinander statt immer nur gegeneinander – das wünsche ich mir für Bosnien«, sagt der 21-jährige.

Dankbar

Samedin Selimovic ist ein Kämpfer. Nie hat er in seinem Leben aufgegeben, obwohl er viel Schweres erleiden musste. Diese Erfahrungen haben ihn geprägt. »Aufgrund meiner Vergangenheit kann ich mich gut in andere hineinversetzen und bin sensibler als andere«, ist sich Samedin Selimovic sicher. Er sieht es heute als Bereicherung, dass er in der Schweiz die reiche und in Bosnien die arme Seite kennengelernt hat. »Die Erfahrungen in Bosnien machen mich dankbar für die Sachen, die ich jetzt hier habe«, erklärt er. Dadurch schätze er gerade kleine Dinge viel mehr. »Hier kann ich Eistee trinken – in Bosnien gab es Leitungswasser mit Steinchen darin«, meint der St. Galler, »das schätze ich und dafür bin ich dankbar«.

 

Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn das eine oder andere nicht passiert wäre? Würde er irgendwo in Bosnien auf dem Bau schuften? Oder in der Schweiz für die Universität lernen? Solche Überlegungen kann man im Leben des Samedin Selimovic immer wieder stellen. Letztlich sind sie sinnlos, da niemand seine Vergangenheit verändern kann. Aber es ist klar, dass Samedin Selimovic ohne Srebrenica, ohne Bosnien, ohne den Tod seines Vaters jetzt höchst wahrscheinlich nicht im Büro seiner Agentur sitzen würde. Ein letztes Mal schaut Samedin Selimovic seinem Gegenüber direkt in die Augen. In seinem Blick spiegelt sich seine ganze verworrene Lebensgeschichte, Melancholie und Lebensfreude gleichzeitig. Nachdenklich sagt er: »Meine Vergangenheit hat mich zu dem Samedin gemacht, der ich heute bin.«

Dieser Text wurde von tink.ch übernommen. Bild: ELLY Photographie