Generation Trauma
Vier Jahre dauert der Bürgerkrieg in Syrien nun schon. Im Flüchtlingslager Bab-al-Salameh finde ich kaum einen Menschen, der keinen Angehörigen verloren hat. Sie alle müssen irgendwie mit ihren Erlebnissen klarkommen.

 

Zwischen Zelten mit der Aufschrift UNHCR – das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen – spielen zahlreiche Kinder. Einige werfen Murmeln auf den staubigen Boden, andere springen um die Wette über einen Bach türkischer Abwässer, der quer durch das Lager „Bab-al-Salameh“ („Tor zum Frieden“) an der türkisch-syrischen Grenze fliesst. Es wird gelacht und getobt. Obwohl nur wenige Kilometer entfernt gekämpft wird, scheint der Krieg in diesem Moment vergessen und weit weg.

 

Neben ein paar Jugendlichen, die Fussball spielen, posiert der vierjährige Syed für ein Foto. Es ist eine populäre Abwechslung für viele Kinder, im sonst tristen Camp-Alltag Journalisten über das Gelände zu begleiten. Lächelnd werfen sie sich vor die Kameras, um anschliessend das Bild auf dem Display neugierig zu bestaunen. Auch der achtjährige Ali, der gerade mit einem Luftballon spielt, will mit aufs Bild. Doch plötzlich platzt der Ballon. Syed erschrickt und zuckt zusammen. Mit dem Knall des zerberstenden Luftballons kommen schlagartig die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an Bomben, Schüsse, Krieg.

In Schutt und Asche

Mehr als zwei Jahre dauert der Bürgerkrieg in Syrien nun schon an. Hier in der Provinz Aleppo findet man kaum einen Menschen, der keinen Angehörigen in diesem Krieg verloren hat. Scud-Raketen legen Wohnviertel in Schutt und Asche, Kinder müssen mit ansehen, wie ihre Eltern oder Geschwister sterben. Viele Kämpfer sind sehr jung und schiessen auf Menschen, die sie vor dem Krieg vielleicht in der Universität kennengelernt hätten. Sie alle müssen irgendwie mit ihren Erlebnissen klarkommen.

 

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind ein Problem in Kriegsgebieten, das oft zu wenig beachtet wird. „Jeden Tag sehe ich hier einen neuen Patienten mit Epilepsie“, sagt Dr. Al-Masr, er ist Camp-Arzt in Bab-al-Salameh. In den meisten Fällen hänge dies mit den Kriegserlebnissen zusammen. „Selbst viele Teenager sind Bettnässer oder haben massive Schlafstörungen, andere reagieren panisch auf laute Geräusche.“ Die Traumata haben ganz verschiedene Ausprägungen, doch laut dem Mediziner sind quasi alle Kinder hier traumatisiert: „Die ganze Generation, die jetzt heranwächst, ist eine Generation des Krieges.“

 

Al-Masr spricht aus seiner ärztlichen Praxiserfahrung heraus, denn eine offizielle Statistik über PTBS-Fälle in der Region gebe es nicht. Ausserdem müsse man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen: „Viele Familien glauben, das sei ein privates Problem und kommen deshalb nicht zu uns. Ohnehin haben wir nicht die Kapazität, uns um alle Fälle zu kümmern“, sagt der junge syrische Arzt resigniert. Die wenigen Ärzte im Camp haben mit rund 12 000 Flüchtlingen auch so schon alle Hände voll zu tun. Al-Masr sieht deshalb oft nur die Möglichkeit, starke Psychopharmaka zu verabreichen.

Placebo-Effekt

Lediglich einmal die Woche kommen zwei Psychologen ins Camp. Die kurze Zeit ihrer Anwesenheit reicht jedoch noch nicht einmal aus, um den schwierigsten Fällen eine kontinuierliche Behandlung zu ermöglichen. Die Psychologen setzen deshalb auf eine Art Placebo-Effekt. Sie sind es, welche die Luftballons, die Spielbälle oder Murmeln an Ali, Syed und die anderen Kinder verteilt haben. Verdrängen statt Aufarbeiten – für mehr reichen die Kapazitäten einfach nicht aus.

 

Auch für die 42 Lehrerinnen und Lehrer der Camp-Schule ist die psychische Situation der Kinder eine grosse Herausforderung. An einem Tisch im Inneren eines grösseren Zeltes, das als Lehrerzimmer fungiert, hockt der 27-jährige Husain Al-Staif. Vertieft in Unterrichtsmaterialien, die er in wenigen Minuten mit seinen Schülern durchgehen möchte, blickt er lediglich ab und zu auf, um einen Schluck Tee zu trinken. Al-Staif, der aufgrund des Bürgerkriegs sein Lehramtsstudium nicht beenden konnte, unterrichtet erst seit drei Monaten in den engen Camp-Schulzelten. Anders als in den umkämpften Regionen, wo Schulen zu Angriffszielen wurden, haben die Heranwachsenden hier wieder eine Chance auf Schulbildung. Rund 700 Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 15 Jahren besuchen die Schule. Aus Mangel an Lehrkräften und Klassenzelten wird in zwei Schichten unterrichtet, also jeweils etwa 350 Schüler am Vormittag und am Nachmittag. Kurz vor Ende der Pause huscht der Blick des jungen Lehrers über einen Stapel mit Kinderzeichnungen. In den Bildern der Schulkinder offenbaren sich die Schrecken und das Leid, welches sie durchleben mussten, bevor sie ins Camp geflohen sind. „Schreiben und Lesen zu vermitteln, ist eine Sache, doch wir wenigen Lehrer können keine kontinuierliche und individuelle psychologische Betreuung ermöglichen“, sagt Al-Staif betrübt.

Kriegsschrecken verdrängen

Jede Lehrkraft versucht auf ihre Weise, mit der Situation umzugehen, denn ein einheitliches Konzept zur Trauma-Bewältigung gibt es nicht. Einige glauben, es sei das Beste, die Kriegsschrecken aus den Köpfen der Kinder zu verdrängen. Andere finden es wichtig, die schlimmen Erlebnisse der Mädchen und Jungen im Unterricht zu thematisieren. Ein paar Zelte weiter beginnt gerade eine Englischstunde, wissbegierig scharen sich einige Jungen um die wenigen Vokabelhefte, die ihnen zur Verfügung stehen. Der Lehrer Mohammad Ali hat für seine Schüler gedichtet: „How can we get Freedom“ („Wie können wir Freiheit erreichen“) singt die ganze Klasse auf die Melodie des Queen-Hits „We will rock you“. “Only with Love, we can get it! With Hate, we will never get it“ („Nur mit Liebe werden wir sie erreichen! Mit Hass werden wir sie niemals bekommen“) geht der Refrain in der Version des Englischlehrers weiter, die Kinder singen begeistert mit.

 

Unterdessen nutzen drei Jungen aus der Vormittagsschicht den freien Nachmittag. Zwischen den Schulzelten rangeln sie um eine Spielzugpistole. Grinsend simulieren sie eine Hinrichtung. Für sie ist es in diesem Augenblick nur ein Spass, bei dem viel gelacht wird. Lediglich zehn Kilometer entfernt gibt es auch Kinder, die lachend mit ihren Waffen posieren. Hier ist es jedoch bitterer Ernst. Die 13- bis 17-jährigen Jugendlichen bewachen eine Strassensperre in der Nähe des seit Monaten umkämpften Flughafens Menag. Unter ihnen ist auch ein zehnjähriger Junge mit kindlichem Gesicht. Stolz läuft er mit einer Kalaschnikow umher. Er ist noch kein Kämpfer, sondern der Sohn des Kommandeurs. Im Hintergrund der bizarren Szene sind immer wieder Detonationen der nahen Kämpfe zu hören. Für viele Jugendliche in Syrien ist der eigene bewaffnete Kampf die logische Konsequenz aus der extremen Gewalt, die sie erlebt haben. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche von bewaffneten Gruppen laut einer Studie der Organisation „Save the Children“ immer häufiger instrumentalisiert werden.

 

Doch nicht alle jungen Menschen in diesem Krieg suchen die Lösung in Gewalt und Gegengewalt. In einem dämmrigen Krankenzimmer in der türkischen Grenzstadt Kilis liegen zahlreiche Verletzte, unter ihnen auch der 15-jährige Ahmad. Er verlor bei der Bombardierung eines Wohnviertels in Aleppo nicht nur sein linkes Auge, auch seine drei jüngeren Geschwister wurden getötet. Nun erholt er sich zwischen verletzten Rebellen von den Wunden und liest im Koran. Sobald er das Spital verlassen kann, will er zurück nach Aleppo. Nicht um zu kämpfen, sondern um, sobald dies möglich ist, erneut eine Schule und anschliessend eine Universität zu besuchen. Auch solche Hoffnungsschimmer gibt es in dieser Kriegsgeneration.

 

Bilder: Ruben Neugebauer